Ich stand am Bahnhof Basel und bot Surprise zum Verkauf an. Eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter kam auf mich zu, und zwar mit einer Frage: «Wieso verkaufen Sie hier Surprise?» Dann schob sie nach: «Sie sehen ja nicht hilfsbedürftig aus.» Ich war zuerst sprachlos, fasste mich kurz und begann mit den beiden Frauen zu diskutieren. «Wie soll denn eine SurpriseVerkäuferin aussehen?», fragte ich zurück. Sie kamen zum Schluss: Ich sähe nicht bedürftig aus, weil ich zu gut gekleidet sei. Ihrer Meinung nach hätte man mir auf irgendeine Art ansehen sollen, dass ich es nötig habe.
Was sollte ich nun damit machen? Sollte ich es als Ratschlag verstehen? Wollten sie mir sagen, wenn man «es mir an sähe», würde ich meine Rolle als Bedürftige schöner ausfüllen? Wer stellt denn solche Klischees auf? Die Frauen hatten sich vorgestellt, ich hätte eine Rente und diese würde mir nicht reichen. Aber das Schweizer Gesetz erlaubt mir altersmässig noch keine Rente, und Sozialhilfe bekomme ich nicht. Die Frauen hatten sich vorgestellt, das System würde einfach so automatisch greifen. Aber auch Arbeit oder eine gute Ausbildung sind keine Garanten dafür, dass man nicht in die Armut rutscht.
Ich hole etwas aus, weil Obdachlosigkeit eine komplexere Angelegenheit ist, als sich ungeduscht auf die Strasse zu stellen. Ich war viereinhalb Jahre wohnungs- und oft obdachlos. Ohne festen Wohnsitz gehörte mir nichts, und ich war überall Gast. Wenn ich etwas benutzen wollte, musste ich fragen. Sogar fürs Duschen. Ich hatte keine Adresse. Und deswegen auch keine Möglichkeit, mich amtlich anzumelden. Um Sozialhilfe zu erhalten, ist ein fester Wohnsitz erforderlich.
Ich hatte mich an meinem Wohnsitz Bern abgemeldet und reiste mit dem Zug nach Basel, ohne Ticket. Ich kam wegen einer Pastorin hierher, die ich kannte. Ich wusste, mit ihr würde ich mein Leben reflektieren. Ich war überlastet von meiner Vergangenheit, ich musste mein Burnout aufarbeiten und hatte nach einer Scheidung alles verloren. Job, Haus, Familie. Ich musste einen Bruch machen, einen Strich in meinem Leben ziehen.
Aufgewachsen war ich im emotional luft leeren Raum, beziehungslos zwischen einer Pflegefamilie und meiner leiblichen Mutter. Beziehungslosigkeit führt in die Einsamkeit. Einsamkeit führt dazu, dass man sich noch mehr zurückzieht und selbst isoliert.
In Basel bin ich untergetaucht. Eine Vermisstenanzeige lief, mein Sohn hat sie gemacht. Ich war für niemanden mehr erreichbar. Bei der Einwohner*innen kontrolle habe ich mich nicht angemeldet. Es war eine bewusste Entscheidung, und ich konnte mich deswegen nicht bei der Sozialhilfe anmelden.
Ich kann das alles und noch mehr erzählen. Aber dann denke ich: Muss ich mich bei Käufer*innen wirklich dafür rechtfertigen, dass ich dastehe?
Die Texte für diese Kolumne entstehen in Workshops unter der Leitung von Stephan Pörtner und der Redaktion. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.